Zeitenwende 2022 – was macht das mit unserer Gesellschaft?

Debattenbeschreibung

Am 04. November 2022 fand im Theatermuseum Düsseldorf eine Veranstaltung des Grünen Salons statt zum Thema Zeitenwende `22 – was macht das mit unserer Gesellschaft? Zu dieser Veranstaltung wurden die Vertreterin der katholischen Friedensbewegung pax christi aus Köln, Frau Dr. Ursula Paulus, und die Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Sara Nanni, eingeladen. Worum ging es an diesem Abend, was kann man sich unter Zeitenwende vorstellen?

Ein gelber Pfeil, der nach rechts zeigt, unter ihm viele kleine Pfeile, die nach links zeigen.

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents.“[1] Mit diesen Worten beginnt die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag am 26. Februar dieses Jahres. Die Ursache für diese Zeitenwende benennt der Bundeskanzler sofort: „Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen.“ Die Folgen für die deutsche Regierungspolitik sind einschneidend: Es wird ein Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden noch in diesem Jahr eingerichtet, und es wird angekündigt – und nicht nur vorgeschlagen: „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“

Zeitenwende ist ein großes Wort, das Wort des Jahres 2022. Es geht dabei nicht nur um einzelne Maßnahmen, die zu ergreifen sind, mögen sie auch noch so umfassend oder bedeutend sein. Es geht angeblich ums Ganze, alles bisher Vertraute wird überprüft und ist gegebenenfalls zu verändern / abzuschaffen. Es bricht eine neue Zeit an, unser Denken muss in anderen Koordinaten stattfinden, die den neuen Realitäten angemessen sind. Bewährtes ist nicht mehr bewährt, sondern veraltet.

Worin besteht diese Zeitenwende? Sie geht weit über die finanzpolitische Entscheidung eines Sondervermögens und des 2-Prozent-Verteidigungsetats im Rahmen der Nationalen Sicherheitsstrategie hinaus. Wir befinden uns in einer Situation, in der gesellschaftspolitische Entwicklungen unter dem Eindruck des Angriffskrieges auf die Ukraine zumindest vertagt, wenn nicht sogar ganz aufgegeben werden. Der Politologe und Gewerkschafter Hans-Jürgen Urban bringt dies treffend auf den Punkt: „Mit dem Gestus eines auftrumpfenden Realismus, der seine Zeit gekommen sieht, werden Essentials eines sozial-demokratisch-linken Selbstverständnisses zu eklatanten Fehlern der Vergangenheit erklärt und auf diese Weise abgeräumt.“[2]

So ist die bisher gültige, wenn auch brüchig gewordene Route des Wandels durch Annäherung, die durch Willy Brandts Ostpolitik ermöglicht wurde, in Bezug auf Russland nicht mehr vertretbar. Neben der Neudefinition der Russlandpolitik, die nun die Form von Wirtschaftssanktionen und von Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine annimmt, hat auch eine Neudefinition Russlands selbst stattgefunden: Von einem wenn auch autokratischen Handelspartner zu einem nationalistischen Aggressor, ja einem Vertreter eines „Neo-Imperialismus“.[3] Entsprechend deutlich fällt auch die Einschätzung des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil aus, die er in einer Rede auf der Parteiveranstaltung „Zeitenwende: Sicherheit und Frieden in Europa“ gegeben hatte: Der Satz, dass es nur Sicherheit mit Russland geben könne, habe keinen Bestand mehr. Vielmehr gilt: „Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren. Russland hat sich aus dem System der gemeinsamen Sicherheit und der gemeinsamen Werteorientierung verabschiedet.“[4]  

Die sogenannte Ertüchtigung der Bundeswehr steht im Zeichen dieser Neudefinitionen. Der Stellenwert von Rüstung und Rüstungsausgaben ist schlagartig gestiegen, und eher pazifistische Positionen geraten mehr und mehr in die Defensive. Der Imagegewinn der Bundeswehr und ihrer Soldat*innen ist beträchtlich: Sie schützen uns vor den Gefahren eines neo-imperialistischen Russland. In seiner Regierungserklärung bringt Olaf Scholz diese Wertschätzung gegenüber den Bundeswehrangehörigen zum Ausdruck: „Danke für ihren wichtigen Dienst gerade in diesen Tagen.“ Neben der verteidigungspolitischen Zeitenwende finden jedoch auch auf anderen Politikfeldern völlig neue Entwicklungen statt.

Der Betrieb von Kohlekraftwerken wird aufgrund des drohenden Energiemangels höherrangig bewertet als die Erfordernisse einer Klimapolitik, auch wenn in der Regierungserklärung vom 26. Februar betont wird: „Je schneller wir den Ausbau erneuerbarer Energien vorantreiben, desto besser.“ Dies dient dem Ziel, die Importabhängigkeit von „einzelnen Energielieferanten“, in erster Linie Russland, zu überwinden. Kurzfristig wird jedoch ein Wiederhochfahren von Kohlekraftwerken bzw. ihr Weiterbetrieb als alternativlos dargestellt. Die Begründung dafür ist die sogenannte „Energiekrise“ – eine neue Leitvokabel, die Erinnerungen weckt an die Öl(preis)krisen in den siebziger Jahren des 20. Jh. Der befristete Weiterbetrieb von Atomkraftwerken unter dem Motto des „Streckbetriebs“, das heißt ohne die Installation neuer Brennstäbe, ist beschlossen; die Debatte über eine dauerhafte Nutzung ist jedoch keineswegs vom Tisch. Auch bisher als zu umweltschädlich eingestufte Verfahren wie das Fracking geraten wieder in der Diskussion.

Neben verteidigungspolitischen und ökologischen Themen ist der ökonomische Aspekt ein weiterer wichtiger Bestandteil der Zeitenwende. Die Debatte zu einer Übergewinnsteuer wird in Deutschland eher verhalten geführt, für ihre Einführung brauchte es erst eine verpflichtende EU-Notfallverordnung. Bis zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes wird das vorsichtige Abschöpfen von Zufallsgewinnen bevorzugt. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland haben gravierende Folgen, so dass unter anderem die Preise für Gas und andere Energieträger steigen mit entsprechenden wirtschaftlichen Folgen für die Verbraucher*innen sowie für die vom Gas abhängigen Unternehmen. Die Öl(preis)krise der Siebziger ist zur Gas(preis)krise der gegenwärtigen Zwanziger geworden. Die Inflation steigt auf den höchsten Satz seit Jahrzehnten. Dies führt dazu, dass auch bisher marktorientierte Politiker*innen sich an massiven Unterstützungsmaßnahmen beteiligen, die eigentlich gegen das Dogma des freien Marktes verstoßen.

Auf der anderen Seite werden die immensen Gewinne der Rüstungsindustrie – und auch diese selbst – mittlerweile akzeptiert, liefern die betreffenden Firmen, so das Narrativ, doch notwendiges Rüstungsmaterial an die um ihr Überleben kämpfende Ukraine. Das bisher problematische Image von Rüstungsfirmen und Waffenproduzenten wendet sich zusehends ins Neutrale bis Positive, und die Lieferung von Rüstungsgütern nicht nur in ein Krisen-, sondern in ein Kriegsgebiet ist Konsens unter den verantwortlichen Politiker*innen. Vereinzelt wird die Lieferung von wesentlich schwereren Waffen gefordert, als es bisher der Fall war.

Die Zeitenwende geht aber über das Ökonomische hinaus. „Die eigentliche Zeitenwende findet … nicht … im Portemonnaie statt, sondern im Kopf.“ – dies ist ein Kernsatz aus einer Grundsatzrede zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“, die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht am 12. September 2022 vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gehalten hat.[5] In dieser Rede wird viel vom Umdenken und einem notwendigen Kulturwandel gesprochen, denn: „Allein mit Bedächtigkeit, allein mit dem Rückgriff auf bewährte bundesrepublikanische Traditionen werden wir in Zukunft nicht mehr sicher leben können.“ Was mit diesen Traditionen gemeint ist, ist klar – es ist die militärische Zurückhaltung, die seit der nationalsozialistischen Aggression gegen die Nachbarländer zur Staatsphilosophie der Bundesrepublik gehört. Diese ist offenbar zu überwinden, wobei die Vorstellung leitend ist: „ … die Bundeswehr wird in Zukunft eine wichtigere Rolle in unserem politischen Denken und Handeln spielen.“ Welche Rolle das ist, wird mit einem vereinnahmenden Wir unmittelbar gesagt: „Deutschlands Größe, seine geografische Lage, seine Wirtschaftskraft, kurz: sein Gewicht, machen uns zu einer Führungsmacht, ob wir es wollen oder nicht. Auch im Militärischen.“

Hiermit wurde ein Stichwort geliefert, das in der Folge kontroverse Diskussionen auslöste. Die von Lambrecht vertretene Position geht offensichtlich über das hinaus, was von Bundeskanzler Scholz unter dem Begriff der Zeitenwende verstanden wurde. In seiner Regierungserklärung war von einer Führungsmacht nicht die Rede. Trotzdem macht sich auch der SPD-Vorsitzende Klingbeil diesen Begriff zu eigen, indem er in einer weiteren Rede zur Zeitenwende am 21. Juni 2022 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung fordert: „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“[6] Er begründet dies mit den international gewachsenen Erwartungen an die deutsche Regierung, indem er feststellt: „Deutschland steht immer mehr im Mittelpunkt. Wir sollten diese Erwartungen erfüllen.“

Vor allem die scheinbare Alternativlosigkeit dieses Konzepts, die von Lambrecht aus der geografischen Lage Deutschlands abgeleitet wird, sowie ihr quasi naturgegebenes Wesen, unabhängig von unserem Willen, machen es nur schwer akzeptierbar. Es wurde auch sogleich widersprochen, beispielsweise von Katharina Barley, der Vizepräsidentin des Europaparlaments. In einem Interview mit der TAZ vom 17.10.2022 stellt sie klar: „Deutschland ist keine militärische Führungsmacht und sollte das auch nicht werden.“ Sie setzt einen anderen Schwerpunkt: „Deutschlands Stärken sind Diplomatie, Krisenprävention, soft power. Da müssen wir eine Führungsrolle spielen, nicht beim Militär.“

Damit sind die Alternativen gesetzt – militärische Führungsmacht auf der einen Seite, eine Führungsrolle in der Diplomatie und Krisenprävention auf der anderen. Auf dem Juso-Bundeskongress 2022 in Oberhausen prallten diese beiden Konzepte aufeinander. Hier verteidigte Lars Klingbeil seine Auffassung, dass Deutschland in der EU eine Führungsmacht sei und erntete dafür lebhaften Widerspruch vonseiten der Juso-Vorsitzenden Jessica Rosenthal: „Wir sind keine Führungsmacht. Das ist und bleibt falsch.“[7] In Umfragen erhält das Lager der Gegner des Führungsanspruches große Mehrheiten; so lehnen in einer Umfrage des Berlin Pulse, initiiert von der Körber-Stiftung, 68 % der Befragten eine Führungsrolle für Deutschland ab, und 52 % wünschen sich weiterhin eine militärische Zurückhaltung und eine Nutzung diplomatischer Optionen.[8]

Neben den grundsätzlichen Überlegungen, was die Zeitenwende verteidigungs- und außenpolitisch bedeutet, und ob bestimmte belastete Wörter wie „Führungsmacht“ angemessen sind oder nicht, stellt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Folgen der Zeitenwende. Was macht sie mit unserer Gesellschaft? Auch hier finden grundlegende Veränderungen statt, die von vielen Faktoren ausgelöst werden. Hierzu zählen die Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine und die Folgen in der Unterbringung und der Integration der Flüchtlinge einerseits, die gestiegenen Kosten für elementare Bedürfnisse wie Heizen und Ernährung andererseits. Neben Protestaktionen, die sich in ausländerfeindlicher Manier gegen den Aufbau von Flüchtlingsunterkünften richten, ist eine Protestbewegung im Entstehen, die durch die gestiegenen Lebenshaltungskosten veranlasst wurde und sich sowohl von links als auch von rechts im politischen Spektrum artikuliert. Es ist nicht absehbar, ob diese Aktionen die Wucht entfalten, wie sie beispielsweise die teils gewalttätige Gelbwestenbewegung in Frankreich an den Tag legte. Sicher ist jedoch, dass die steigenden Kosten aufgrund hoher Energiepreise und einer ebenfalls hohen Inflation für Bezieher geringer Einkommen, aber auch schon für die ökonomische Mittelschicht, als Bedrohung des eigenen Lebensstandards empfunden werden.

Gegenläufig zu diesen Tendenzen ist schon seit dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine eine Grundeinstellung entstanden, die mit dem Stichwort ‚Solidarität mit der Ukraine‘ bezeichnet werden kann. Diese wurde nicht nur eingefordert oder beschworen, sondern sie schlug sich auch in konkreten Handlungsweisen nieder. So wurden an die Aktion „Deutschland hilft“, einen Zusammenschluss von verschiedenen Hilfsorganisationen, unter dem Stichwort ‚Nothilfe Ukraine‘ im März 2022 als Spitzenwert 181,2 Millionen Euro an Spenden überwiesen. Fast eine Million Flüchtlinge wurden aufgenommen, ca. 150.000 ukrainische Kinder und Jugendliche werden an deutschen Schulen unterrichtet.[9] Eine vom ZDF veröffentlichte Umfrage anlässlich des Besuchs von Außenministerin Baerbock in Kyjiw beim ukrainischen Außenminister Kuleba ergab, dass 70 Prozent der Deutschen der Meinung sind, das Land sollte die Ukraine trotz der hohen Energiepreise weiterhin unterstützen.[10]

Solidarität in Form von Hilfe und Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge zeigte sich direkt nach den ersten Fluchtbewegungen im Februar 2022, wo in den Ankunftsbahnhöfen Zettel und Schilder mit Angeboten für Unterkünfte hochgehalten wurden. Auch über Vermittlungsstellen konnte Wohnraum für Flüchtlinge angeboten werden. Spontane Solidaritätskundgebungen auf Plätzen und bei öffentlichen Veranstaltungen sowie die Präsenz der ukrainischen Nationalfahne gehörten bald zum Erscheinungsbild in den Städten. Die Rheinbahn strich, als öffentliches Zeichen ihrer Solidarität, einen ihrer Straßenbahnwagen in blau-gelber Farbe an mit der Aufschrift (auf Ukrainisch) „Ukraine, wir sind mit dir!“[11]

„Solidarität“ spielte auch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers eine Rolle, und zwar als rhetorische Vorbereitung seiner Ankündigung, ein Sondervermögen für die Bundeswehr aufzulegen: „Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan. Deutschland wird dazu seinen solidarischen Beitrag leisten.“ Hier geht es weniger um die Ukraine selbst, sondern um ein Zusammenstehen mit den anderen europäischen Staaten und darüber hinaus mit den Nato-Staaten. Das Ziel, künftig 2 Prozent des BIP für Verteidigungszwecke zur Verfügung zu stellen, wird als Beitrag dazu verstanden. Den militärischen Aspekt der Solidariät mit der Ukraine stellte auch Annalena Baerbock in einer Rede vor der Körber-Stiftung heraus: „Denn wir liefern eben nicht nur Rüstungsgüter in die Ukraine, um Menschenleben zu retten. Sondern mit diesen Lieferungen, hoffe ich, geht auch ein Schub Vertrauen und Solidarität einher. […] Diese europäische Solidarität ist unsere Lebensversicherung.“[12] Sprachlich ist zweierlei interessant: Zum einen ist mit europäischer Solidarität der Zusammenhalt der europäischen Länder untereinander gemeint, der die Hilfe für das europäische Land Ukraine mit einschließt; zum anderen ist das, was mit Europa gemeint ist, auch ausgrenzend, denn Russland ist zweifellos nicht gemeint, Belarus wohl auch nicht. Man müsste also korrekt sagen: Es geht um die Solidarität eines großen Teils der europäischen Länder im Kampf gegen ein anderes europäisches Land (oder auch zwei), das die Rolle des Aggressors hat. Auch im Konkreten stellen sich hier schwierige Fragen. Ist die Solidarität mit ukrainischen Flüchtlingen eine Selbstverständlichkeit, so sieht es bei russischen Wehrpflichtigen, die aus Russland fliehen, anders aus. Wer sind diese jungen Leute, wie stehen sie zum russischen Angriffskrieg über ihre persönliche Betroffenheit hinaus und ihr Bedürfnis, nicht im Krieg verheizt zu werden?

Gehört angesichts der Lage in der Ukraine der Friedensgedanke zu den Dingen, die durch die Zeitenwende – wie Urban es ausdrückt – abgeräumt wurden? Ist die Perspektive von Diplomatie und Friedensverhandlungen in weite Ferne gerückt? Wer, wie Dr. Ursula Paulus von pax christi in der Diskussion des Düsseldorfer Grünen Salons am 04.11.2022, das Handeln der Russen auch gegenwartsgeschichtlich herzuleiten versucht und sich in der Folge für einen Waffenstillstand sowie für Gespräche und Verhandlungen mit der russischen Führung ausspricht, muss mit starkem Gegenwind rechnen. Russland, so eine weitere Argumentation von Paulus, sollte als gleichberechtigter Verhandlungspartner anerkannt werden, um die Gewaltspirale von Angriff und Gegenangriff zu durchbrechen. Aus ihrer pazifistischen Sicht folgt ganz konkret, als Minimalziel, die Unterstützung der russischen Kriegsdienstverweigerer.

Hier schließt ein Artikel von Nele Pollatschek von der Süddeutschen Zeitung an. Sie weist darauf hin, dass die meisten für das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung auch mit militärischen Mitteln sind, andererseits aber wohl keiner einen Krieg wirklich will. Nun kann aber jemand, der für eine Beteiligung an einem Krieg ist, nicht gleichzeitig dagegen sein. Dies wäre ein nicht lösbarer Interessenkonflikt. Sie folgert aus diesem Dilemma: „Deswegen braucht es Pazifisten genau dann, wenn fast alle sich für massive Waffenlieferungen aussprechen. Gerade weil man sich an einem Krieg beteiligt, braucht man Menschen, die sich niemals an einem Krieg beteiligen würden.“[13] Die pazifistische Position ist in Pollatscheks Sicht ein notwendiges Korrektiv zum vermeintlichen Konsens eines wehrhaften Pazifismus, als einer Friedensvorstellung, die einen (Verteidigungs-)Krieg unterstützt und dann in einen Widerspruch gerät, der sich in der Kombination des Wehrhaften mit dem Pazifismus zeigt. Dieser innere Widerspruch ist nur auflösbar, wenn man ihn diskursiv verhandelt, wenn es also Menschen gibt, die das Wehrhafte vertreten, und andere Menschen, die den Pazifismus vertreten. „Nicht – so Pollatschek weiter – um ihnen notwendigerweise zuzustimmen, sondern um sich selbst genau in diesen Stunden immer wieder zu hinterfragen.“

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist aber nicht nur ein Problem des Diskurses, sondern er hat eine globale, europäische und nationale Dimension. Darauf wies im Grünen Salon die grüne Bundestagsabgeordnete Sara Nanni in ihrem Statement hin. So verursacht die zunächst unmögliche und dann immer wieder schwierige Versorgung vieler Länder des globalen Südens mit ukrainischem Getreide die reale Gefahr von Hungerkatastrophen. Auf europäischer Ebene muss man sich mit der Kriegsangst der unmittelbaren Nachbarn Russlands, vor allem im Baltikum, auseinandersetzen. Das Schutzbedürfnis dieser Länder ist ernstzunehmen. Schließlich ist die Sorge vor diesem und folgenden Wintern in Deutschland unter anderem wegen der prekären Energieversorgung zur Kenntnis zu nehmen, und es sind Resilienzen zu entwickeln, wie man dieser Situation begegnen kann. Als allgemeine Einstellung empfiehlt sich in Nannis Sicht hier grundsätzlich ein Zusammenhalten und auch eine gewisse Demut, die davor bewahrt, vorschnelle Lösungsrezepte zu präsentieren.

Die Diskussion während des gut besuchten Grünen Salons vom 04. November war intensiv und kontrovers, aber durchweg getragen vor dem Respekt vor der Auffassung der anderen – gerade um sich, wie Pollatschek schreibt, immer wieder zu hinterfragen.


[1] Dieses und die folgenden Zitate aus: Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022, Sonntag, 27. Februar 2022.  https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356. Zugriff am 13/08/2022.

[2] Hans-Jürgen Urban, Zeitenwende wohin? Die moralische Empörungsspirale als Sackgasse. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2022, S. 80.

[3] Rüdiger von Fritsch, Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen. Berlin: Aufbau Verlag, 32022, S. 46.

[4] Lars Klingbeil, Rede auf der Veranstaltung „Zeitenwende: Sicherheit und Frieden in Europa“ vom 19/10/2022. https://www.spd.de/aktuelles/details/zeitenwende-sicherheit-und frieden-in-europa/19/10/2022. Abgerufen 03/11/2022.

[5] Dieses und die folgenden Zitate sind zu finden unter: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/grundsatzrede-zur-sicherheitsstrategie-5494864, Zugriff 02/11/2022.

[6] Rede von Lars Klingbeil, auf der Tiergartenkonferenz der Friedrich Ebert Stiftung 2022 mit dem Titel „Zeitenwende – der Beginn einer neuen Ära“. https://www.fes.de, Zugriff 14/12/2022.

[7] s. den Bericht „Nicht nur brav“ in der TAZ vom 01/10/2022, S. 6.

[8] s. den entsprechenden Bericht von tagesschau.de vom 17.10.2022. https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/deutschland-aussenpolitik-103.html Zugriff 16/12/2022.

[9] s. die Reportage der Deutschen Welle vom 08/08/2022: https://www.dw.com/de/hilfe-für-die-ukraine-in-deutschland-erst-solidarität-und-nun/a-62724440. Abgerufen 03/11/2022.

[13] Nele Pollatschek, Lob des Pazifismus, SZ 29/09/2022. http://sz.de/1.5665178